Bei der Bearbeitung traumatischer Erfahrungen in traumatherapeutischen Sitzungen lege ich großen Wert auf die körperliche Wahrnehmung des Klienten, weil das Körperzellgedächtnis das primäre Gedächtnis ist und auch im Schockzustand gemachte Erfahrungen speichert.

 

Diese können durch den therapeutischen Einsatz körperentspannender Methoden sowie von Imaginations- und speziellen Fragetechniken zugänglich gemacht werden. Die familien-systemische Aufstellungsarbeit ermöglicht es darüber hinaus, das individuell erfahrene Trauma im größeren Zusammenhang des Familienschicksals zu sehen.

Missbrauch ist eine schwere Traumatisierung. Es bedeutet, dass das Opfer in seiner als lebensbedrohlich empfundenen Situation in einen dissozierten Schockzustand fällt, seine Gefühle nicht wahrnehmen und sich nicht erfolgreich wehren kann. Angst, Schrecken, Panik, Wut, Verzweiflung, Ohnmacht, Schmerz, Trauer bleiben wie eingefroren in den Körperzellen des Opfers gespeichert sind „emotionale Informationen“ , die im späteren Leben immer wieder getriggert werden und auch zu chronischen Erkrankungen führen können. Auf diese Weise bleibt das Opfer unbewusst weiter an Trauma und Täter gebunden, auch wenn das Geschehen schon Jahrzehnte zurück liegt.

Es ist mein Eindruck, dass der Täter seine natürlichen Gefühle von Schuld und Scham, die zu seinem schuldhaften und perversen Verhalten gehören, abspaltet und sie deshalb nicht spürt. Dennoch sind diese Tätergefühle als Energie im Kontakt zwischen Täter und Opfer vorhanden, und die vom Täter abgespaltene Energie mit den Gefühlsinformationen aus seiner Tat heftet sich sein Opfer.

Missbrauchserfahrungen und ihre Folgen sind das eine, Vergessen ist ein anderes. Denn das Opfer, das den Missbrauch im Gedächtnis behält, weiß um sein Leid, erinnert sich an die ihm widerfahrene Ungerechtigkeit, es kennt sein Schicksal. Das Opfer, das seinen Missbrauch vergessen hat, wie im sehr frühen Kindesalter, täuscht sich über sein Schicksal und seine Identität. Es kann Unrecht meist nicht spüren, weil es im Unrecht gefangen ist und fühlt sich meist nicht als Opfer.

Die im Opfer verinnerlichte Täter-Instanz bildet mit dem Opfer eine Art Verschwörerge-meinschaft „Nichts darf nach draußen“. Wenn beide Elternteile am Missbrauch des Kindes schuldig sind, der Vater etwa, weil er ihn vollzogen hat und die Mutter, weil sie ihn nicht verhindert hat, – dann bedeutet das Schweigen des Kindes, dass es seine Eltern dadurch zusammen hält. Die oft zu beobachtende unbewusste Loyalität des Opfers zu seinem Täter kann in vielen Fällen mit Wirkungen aus dem Familiensystem des Opfers und nach seinem Bedürfnis nach Zugehörigkeit zusammenhängen, wenn etwa auch die Mutter und die Großmutter eines Mädchens missbraucht wurden.

Eine wichtige Wirkung der therapeutischen Kunst besteht in der Zeugenschaft des Therapeuten: indem das Opfer vor ihm in seiner Körperwahrnehmung und der damit einher gehenden fragmentarisch zurück kehrenden Erinnerung zeigen darf und kann, was es vor seinem Peiniger und anderen geheim gehalten hat, widerfährt seinen Gefühlen eine heilende Anerkennung.

Der sprachlichen Einfachheit halber wird von „Täter“ gesprochen, mit dieser männlichen Wortform ist auch die Täterin impliziert, ebenso ist mit „Therapeut“ auch die Therapeutin gemeint.